Jeder Mensch trägt eine Geschichte in sich. Das ist meine. Sie beginnt mit einem unscheinbaren Funken, einer Erinnerung, die lange Zeit tief in mir schlummerte, bevor sie sich ihren Weg an die Oberfläche bahnte.
Mit 34 Jahren lebte ich mit meiner Familie auf einer kleinen Insel im Mittelmeer. Mein damaliger Freund – heute mein Mann – und ich waren selbstständig, arbeiteten oft Tag und Nacht. Eines Abends, nach einem langen Termin, klingelte spät das Telefon. Mein Mann sprang auf, um den Anruf entgegenzunehmen. In diesem Moment explodierte etwas in mir. Ich fühlte einen unbändigen Zorn in mir aufsteigen.
Versteht mich nicht falsch, wir verdienten gut. Wir hatten ein schönes, großes Haus, ein neues Auto, unser Sohn besuchte eine Privatschule. Eigentlich führten wir das perfekte Leben, so wie man es sich vorstellt. Aber ich war unglücklich, zutiefst unglücklich, und versank immer tiefer in eine lähmende Depression.
Dann, an einem scheinbar gewöhnlichen Tag, hielt ich während meiner wöchentlichen Einkaufstour spontan an einer Gärtnerei an und kaufte ein paar Blumen. Ein kleiner Akt mit großer Wirkung. Innerhalb kürzester Zeit verwandelte sich unser Hinterhof in einen üppigen Dschungel. Kräuter, Zitronen, Salat und viele andere Pflanzen gediehen prächtig. Sogar Tomaten rankten sich an der Decke entlang, da am Boden kein Platz mehr war. Und dann, wie aus dem Nichts, war die Erinnerung plötzlich wieder da. Glasklar. Und ich wusste, was mir fehlte, wonach mein Herz und meine Seele sich so lange gesehnt hatten. Diese Erinnerung katapultierte mich zurück in meine Kindheit, ich war etwa 13 Jahre alt.
Ich gebe zu, ich war kein einfacher Teenager. Heute würde ich mich als regelrechtes Monster bezeichnen. Meine Eltern, am Ende ihrer Weisheit, schickten mich zu meiner Tante nach Amerika. Ein Versuch, mich "auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen", wie sie es nannten. Was ihr allerdings wissen müsst. Meine Tante und mein Onkel zählen nicht zur "Norm".
Sie lebten auf einem abgelegenen Berg, zweieinhalb Stunden von San Francisco entfernt, inmitten der Wildnis. Gab es Nachbarn? Ich weiß es bis heute nicht. Der nächste Einkaufsladen war eine Autostunde entfernt. Ihr Haus, selbstgebaut, bezog Strom aus Solarzellen und Wasser aus einem nahegelegenen Bach. Ich erinnere mich noch gut, wie meine Tante mir erklärte, dass ich das Toilettenpapier nicht in die Toilette, sondern in den Eimer daneben werfen sollte – sie hatten eine Sickergrube. Ein Konzept, das mir damals völlig fremd war.
Sechs Wochen, abgeschnitten von jeglicher Zivilisation. Für mich als 13-Jährige der Weltuntergang. Und dann zeigte mir meine Tante meinen Schlafplatz: ein Zelt. Wie sollte es auch anders sein. Auf dem Weg dorthin kamen wir an ihrem Garten vorbei. Ein riesiger, prächtiger Garten, der alles bot, was man zum Leben brauchte. Tee- und Gewürzkräuter, Heilpflanzen, Beerensträucher, Obst und Gemüse im Überfluss. Die Vielfalt an Gerüchen, Formen und Farben war überwältigend. Meine Tante lehrte mich, wie man Ringelblumenöl herstellt, und erklärte mir die wunderbaren Eigenschaften dieser Pflanze. Ich war fasziniert, konnte nicht genug bekommen. Die sechs Wochen vergingen wie im Flug, und ich war traurig, als ich abreisen musste.
Meine Tante und mein Onkel hatten mich in eine Welt entführt, die mir bis dahin unbekannt war. Eine Welt im Einklang mit der Natur, die ihnen alles gab, was sie brauchten. Eine Welt ohne Leistungsdruck, ohne den Zwang nach materiellem Besitz oder gesellschaftlichem Status.
Damals schwor ich mir: Mit 18 kehre ich zurück und lebe so wie sie.
Dieser Traum begleitete mich lange, doch das Leben hatte andere Pläne. Mit der Zeit verblasste die Erinnerung, der Traum geriet in Vergessenheit – bis zu jenem schicksalhaften Abend auf der Mittelmeerinsel.
Glaubt ihr an Zufall, Glück, Bestimmung oder Schicksal? Ich tue es mittlerweile, auch wenn der Sinn mancher Ereignisse sich erst viel später erschließt.
Lange bevor wir auf die Insel zogen, hatte mein Mann ein Grundstück in Montenegro gekauft. Das letzte Grundstück am Berg, mit eigener Wasserquelle, nur über einen Feldweg erreichbar. Direkt an der Grenze beginnt die wilde, unberührte Natur Montenegros. Ein Ort, an dem sich Fuchs und Igel noch gute Nacht sagen. Als er es mir zeigte, war ich fasziniert von der Stille und der umliegenden Natur. Aber an ein Leben dort dachte ich damals nicht im Traum.
Und jetzt ratet mal, wo ich heute bin!
Seit 2018 lebe ich in einer der, für mich, schönsten Regionen Montenegros. Hier darf ich meinen Traum vom selbstbestimmten, unabhängigen Leben endlich verwirklichen.